Eskalation rechter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern – LOBBI meldet alarmierende Zahlen
vom 24. September 2024 in Kategorie: Allgemein, Jahresbericht, Pressemitteilung
Die Beratungsstelle für Betroffene rechter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern, LOBBI, musste in den ersten sechs Monaten des Jahres insgesamt 89 rechte Angriffe registrieren. Von den Attacken waren insgesamt 126 Menschen betroffen. Damit bewegt sich die Angriffszahl bereits zum Halbjahr etwa in der Höhe des jährlichen Durchschnitts der vergangenen 10 Jahre. Hochgerechnet für das Jahr 2024 ist somit aktuell ein trauriger Allzeit-Rekord rechter Angriffe seit der Gründung des Vereins LOBBI im Jahr 2001 zu erwarten.
Rassismus war von Januar bis Juni 2024 bei 52 Angriffen das maßgebliche und somit auch das mit Abstand häufigste Tatmotiv. Für bundesweite Erschütterung sorgte im Juni ein Angriff auf eine Familie in Grevesmühlen, bei dem zunächst zwei Mädchen aus einer Gruppe Jugendlicher heraus rassistisch beleidigt und das jüngere Mädchen getreten wurden. Anschließend attackierten die rechten Jugendlichen die Eltern, als diese versuchten, sie zur Rede zu stellen. Der Vater des kleinen Mädchens erlitt hierbei einen gebrochenen Finger.
Auffällig ist darüber hinaus eine Zunahme der Angriffe gegen vermeintliche politische Gegner:innen der Rechten. Mit 22 Angriffen waren sie deutlich häufiger Ziel rechter Gewalt als im Jahr 2023 (16).
Regionale Schwerpunkte sind neben den beiden Großstädten Schwerin und Rostock, die insgesamt – bezogen auf die Einwohner:innenzahl – die größte Inzidenz aufweisen, die Landkreise Vorpommern-Rügen und Vorpommern-Greifswald. Besonders herauszustellen ist hierbei die Hansestadt Stralsund, in der die LOBBI zehn Angriffe registrierte.
„Wir blicken jetzt schon auf eine Eskalation rechter Gewalt, wie wir sie zuletzt in den Jahren 2015 und 2016 registrieren mussten“ sagt Robert Schiedewitz, Mitarbeiter der LOBBI. Damals rollte eine Welle rasssistischer Mobilisierung und in deren Folge auch Gewalt durch Mecklenburg-Vorpommern, die seitdem auf einem hohen Niveau verharrt. „Wir gehen davon aus, dass die aggressive Stimmung der extremen Rechten im Wahlkampf und die Wahlerfolge rechter Parteien und Wähler:innenbündnisse bei den Kommunal- und Europawahlen zu dieser alarmierenden Verschärfung beigetragen haben – gepaart mit der zunehmend auf Kosten von Migrant:innen ausgetragenen politischen Auseinandersetzung auf Bundesebene”, so Schiedewitz weiter.
Anfang des Jahres gelang es, angesichts der Öffentlichmachung der Deportationspläne hochrangiger AfD-Politiker:innen und anderer extrem Rechter Aktivist:innen, mit einer breiten Straßenmobilisierung ein Signal der Solidarität und gegen rechte Gewalt auszusenden. Doch im Laufe des Frühjahrs konnte insbesondere die AfD, mit andauernden Provokationen und weiteren Skandalen im Zusammenhang mit den Kommunal- und Europawahlen, die Aufmerksamkeit umlenken und mit zumeist rassistischen Zuspitzungen und Forderungen erneut eine Diskursverschiebung vorantreiben, die andere dann in Gewalttaten umsetzten. Wie im vorpommerschen Loitz, wo im Juni ein Mann aus Afghanistan zunächst auf einer Kreuzung von einem Fußgänger zum Anhalten seines Autos genötigt und von diesem und einem weiteren Unbekannten rassistisch angepöbelt wurde. Als er es schaffte, zu flüchten, wurde er verfolgt, ausgebremst und verletzt, als drei Personen mit Gegenständen auf sein Auto einschlagen. In Loitz gab es bereits im Vorjahr eine rassistische Hetzkampage im Zusammenhang mit der Unterbringung Geflüchteter und unmittelbar nach deren Bezug auch Anschläge auf die Unterkunft in einer alten Schule. Die Stimmung vor Ort wurde auch durch einen Landtagsabgeordneten und eine Demminer Stadtvertreterin der AfD angeheizt.
Umfragen des Berliner Meinungsforschungsinstituts pollytix und Untersuchungen der Princeton University zu Gewaltbefürwortung durch AfD-Wähler:innen zeigen deutlich, dass mindestens jede:r fünfte AfD-Anhänger:innen Gewalt gegen Politiker:innen demokratischer Parteien und Geflüchtete als Mittel der Beeinflussung politischer Prozesse und zur Vertreibung von Geflüchteten befürwortet.
Und tatsächlich scheinen sich der Wahlkampf und die Erfolge rechter, antidemokratischer Positionen rund um den Wahltermin am 9. Juni niederzuschlagen. Exakt die Hälfte der im ersten Halbjahr registrierten Angriffe fand in den Monaten Mai und Juni statt: unter anderem die Bedrohung eines SPD-Wahlhelfer-Teams mit einem Messer Ende April in Rostock Lütten-Klein oder die rassistischen Beleidigungen und Bedrohungen gegen eine Kandidatin der Linken, nur wenige Tage später, ebenfalls in Rostock. Die Kommunalpolitikerin hatte versucht, eine Gruppe Männer zur Rede zu stellen, die gerade dabei waren ihre Wahlkplakate abzureißen.
Die aktuelle Konjunktur rechter Gewalt ist ein klarer Hinweis darauf, dass rechte Gewalttäter:innen ihre Selbstsicherheit und vermeintliche Legitimation aus dem gesellschaftlichen Klima und den Frames aktueller Diskurse ableiten. Die Wahlergebnisse mit teilweise 40 bis 50% Zustimmung für extrem rechte Parteien und Akteur:innen machen für potenziell Betroffene rechter Gewalt zudem eine existenzielle Bedrohung in einem neuen Ausmaß sichtbar. Ihre Schutzräume werden in Zukunft vermehrt in Frage gestellt werden, es besteht die Gefahr, dass sich vulnerable Communities aus der Öffentlichkeit zurückziehen. In vielen Orten ist dies bereits der Fall.
Neben von Rassismus Betroffenen, die als ohnehin marginalisierte Gruppe die rassistischen Konzessionen an die Rechten als erste zu spüren bekommen und Ziel rechter Gewalt werden, nehmen Anfeindungen und Gewalt gegen vermeintliche politische Gegner:innen zu.
Ganz aktuell zeigt sich zudem, dass Veranstaltungen wie Christopher-Street-Day-Paraden nicht (mehr) ohne Polizeischutz stattfinden können, weil Neonazis gegen diese Veranstaltungen mobilisieren, wie zuletzt in Wismar.
Doch es bleibt eben nicht bei Beschimpfungen. Angriffe wegen des Tragens einer Regenbogen-Fahne, Sachbeschädigungen an queerfreundlichen Einrichtungen bis hin zur Brandstiftung wie vergangene Woche in Rostock, weisen auf eine besorgniserregende Entwicklung und eine klare Feindmarkierung in Richtung der LGBTIAQ+-Community und ihrer Allies hin.
Der Bundesverband der spezialisierten Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) warnte unmittelbar nach den Wahlergebnissen in Thüringen und Sachsen vor einer gefährlichen „Wechselwirkung zwischen der zutiefst menschenverachtenden, gewaltverherrlichenden Propaganda der AfD und der Normalisierung von rechten Ideologien, Rassismus, Antisemitismus und Demokratiefeindlichkeit in medialen und gesellschaftlichen Diskursen“. Dieser führe auch zu einer Legitimierung schwerster Gewalttaten, was eine reale Bedrohung für individuell Betroffene ebenso wie für die demokratische Gesellschaft darstelle. Eine besondere Rolle spielen hierbei auch zunehmend neue Gruppen jugendlicher Neonazis, die eine hohe Gewaltbereitschaft zeigen. Durch rechte Wahlerfolge und zusätzlich durch Kampagnen in Social Media eingeheizt, trainieren viele von ihnen zielgerichtet, um Gewalt gegen den politischen Gegner oder in ihren Augen Nicht-Deutsche anzuwenden.
„Solidarität mit den Betroffenen und ein breites, aktives Engagement aus der Zivilgesellschaft und eindeutige Rückendeckung aller demokratischer Parteien müssen anstelle rassistischer oder queerfeindlicher Spaltung der Gesellschaft und eines Unterbietungswettbewerbes im Asylrecht und bei Sozialleistungen treten. Dazu gehört nicht zuletzt auch die Absicherung demokratiefördernder Projekte und der Opferschutzorganisationen.“ – Robert Schiedewitz
Ein Auszug des Angriffsgeschehens findet sich in unserer Chronik rechter Gewalt.
Die Arbeit der LOBBI wird finanziell gefördert mit Mitteln aus dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms “Demokratie leben!” und Kofinanziert von der Europäischen Union aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF).
Die LOBBI ist Mitglied im Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) und im Beratungsnetzwerk Demokratie und Toleranz Mecklenburg-Vorpommern
Übersicht der Zahlen – grafisch aufbereitet – als PDF zur weiteren Verwendung