Wer schweigt, stimmt zu
vom 8. März 2016 in Kategorie: Jahresbericht, Pressemitteilung
Wie bereits nach Ende des dritten Quartals 2015 absehbar, war das vergangene Jahr von einer alarmierenden Zunahme rechter Gewalt im Land geprägt. Insgesamt 220 Menschen waren von den Angriffen betroffen. Allein gegenüber 2014 (84) ist ein Anstieg um mehr als die Hälfte zu verzeichnen.
Rassismus war das Motiv für fast zwei Drittel der Angriffe (84) mit 141 direkt Betroffenen – viele von ihnen Flüchtlinge. Ein Großteil der restlichen Attacken galt Menschen, die von den Täter_innen als politische Gegner_innen wahrgenommen werden (32 Fälle), zum Beispiel weil sie sich in der Flüchtlingshilfe engagieren. Mindestens vier Mal wurden Journalist_innen am Rande von Aufmärschen Ziel rechter Gewalttäter_innen.
Regional verteilten sich die Angriffe insbesondere auf Vorpommern-Greifswald (23), Stadt (21) und Landkreis (17) Rostock, aber auch Vorpommern-Rügen (20), wo insbesondere die Stadt Stralsund Schwerpunktregion rechter Gewalt war.
In knapp der Hälfte der Fälle (62) kam es zu einer vollendeten Körperverletzung, 50 Mal blieb es bei dem Versuch oder es kam zu Nötigungen und Bedrohungen. Des Weiteren wurden 10 Fälle zielgerichteter Sachbeschädigung registriert.
Auffällig ist auch die Zunahme an Brandstiftungen (8; 2013 und 2014 je 1), die vor allem Unterkünfte Geflüchteter betreffen. Hinter der Zahl verbergen sich Anschläge auf bewohnte Unterkünfte wie im Dezember in Tutow, bei denen der Tod der Bewohner_innen billigend in Kauf genommen wurde, sowie Brandanschläge auf (noch) unbewohnte Unterkünfte, um eine Unterbringung zu verhindern. Auf der Insel Usedom beispielsweise kam es 2015 mindestens drei Mal zu derartigen Vorfällen.
Hinzu kommen Brandstiftungen auf Häuser in denen auch Flüchtlinge wohnen, die keinen Eingang in die Statistik gefunden haben, weil ein rassistisches Motiv zwar denkbar aber nicht hinreichend geklärt ist.
»Trotz der enorm gestiegenen Angriffszahlen ist noch immer von einer hohen Dunkelziffer auszugehen«, so Robert Schiedewitz, Mitarbeiter der LOBBI. »Häufig erfahren wir von einem Angriff nur, wenn er polizeibekannt ist und in der Folge öffentlich wird. Von den 130 uns bekannten Übergriffen wurden jedoch nur 100 zur Anzeige gebracht. Grund dafür kann Angst sein, oder teilweise fehlendes Vertrauen in die Strafverfolgung. Deshalb erfahren wir hauptsächlich in Regionen, in denen wir gut vernetzt sind oder neue Kontakte knüpfen konnten, von besonders vielen Angriffen. Dies können wir aber nicht flächendeckend gewährleisten.«
Darüber hinaus kam es im vergangenen Jahr zu einer rassistischen Mobilisierung bisher nicht gekannten Ausmaßes. Über 150 Mal wurden Aufmärsche oder Kundgebungen organisiert – mitunter direkt vor oder in der Nähe geplanter oder bereits bezogener Unterkünfte Geflüchteter. Auf Einwohner_innenversammlungen wurde nicht selten offen rassistisch gehetzt, in Sozialen Netzwerken fielen alle Hemmungen. Häuser wurden mit rassistischen Parolen beschmiert, Transparente und Plakate mit rassistischem Inhalt in der Nähe der Unterkünfte aufgehängt. Geflüchtete wurden in unmittelbarer Umgebung ihrer Wohnung angepöbelt, bespuckt oder geschlagen. Häuser wurden mit Flaschen, Steinen oder Böllern beworfen.
Die Täter_innen bleiben häufig unbekannt und unbestraft, doch sie schaffen ein Klima der Angst, das die Geflüchteten um so mehr trifft, da sie auf ein neues Leben in Sicherheit hofften.
Um das Ausmaß zumindest der bekannt gewordenen Taten zu verdeutlichen, dokumentiert die LOBBI derartige Vorfälle ab sofort in einer gesonderten Chronik und verbindet mit dieser Dokumentation klare Forderungen:
Rassismus ächten, nicht verharmlosen!
Insbesondere im bevorstehenden Wahlkampf sind klare Positionierungen der Landesregierung gefragt, die jedoch seit Monaten zu wenig statt finden. „Zur Zeit scheint es, als wären alle Grenzen des Sag- und Machbaren aufgelöst. Diese wieder zu ziehen, ist das Gebot der Stunde und nicht der Drang, sich als Abschiebemeister loben zu lassen. Gerade in Zeiten, in denen wöchentlich hunderte Menschen gegen Geflüchtete auf die Straße gehen und immer mehr bereit sind, den rassistischen Parolen Taten folgen zu lassen.«, so Schiedewitz. Flankiert wird das Schweigen mitunter von einer Verharmlosung rassistischer Aufmärsche in der Berichterstattung, die vorgibt nüchtern »Ängste« und »Sorgen« aufnehmen zu wollen und dabei die PR rechter Agitatoren übernimmt, so dass aus aggressiven, rassistischen Aufmärschen »asylkritische Abendspaziergänge« werden. Die Arbeit der Journalist_innen, die ihre gesellschaftspolitische Verantwortung wahrnehmen wird dadurch konterkariert und zu Gunsten des »Lügenpresse« grölenden Mobs geopfert.
Rechte Gewalt ahnden, Betroffene ernst nehmen!
Fahndungserfolge wie die Überführung und konsequente Verurteilung der Brandstifter von Groß Lüsewitz 2014 sind leider die Ausnahme und nur durch erheblichen Aufwand möglich. Dieser wäre jedoch auch in weniger spektakulären Fällen nötig, um Täter_innen erfolgreich zu ermitteln und mögliche Nachahmer_innen abzuschrecken.
Gerade Betroffene rassistischer Gewalt sind bei der Anzeigenstellung noch zu oft mit Hürden konfrontiert, wie fehlender Sprachkompetenz in den Behörden oder unzureichender Sensibilität für ihre besondere Situation.
Wenn sie sich darüber hinaus nicht ernst genommen fühlen, mit ungeeigneten Dolmetscher_innen konfrontiert sind oder sogar den Eindruck haben, Verurteilungen scheitern an unzureichenden Ermittlungen, ist ihr Vertrauen in die Behörden insgesamt oft nachhaltig erschüttert.
Helfer_innen unterstützen!
Die Zivilgesellschaft hat im vergangenen Jahr einen enormen Beitrag geleistet, dass die Überforderung und nicht angenommene Herausforderung staatlicher Strukturen mit der Ankunft von mehr Flüchtlingen als erwartet, kompensiert werden konnte. Es ist nun an der Zeit, die Ehrenamtlichen zu entlasten und ihnen Zeit und finanzielle Ressourcen zur Verfügung zu stellen um die eigentliche Aufgabe nicht-staatlicher Akteure, nämlich Integration, überhaupt leisten zu können.