“Was haben die Menschen gegen uns?”
vom 3. Juli 2017 in Kategorie: Artikel
In Stralsund wird ein Mann rassistisch beleidigt und dann attackiert. Auf dem Weg nach Spantekow wird ein iranisches Paar beschimpft und mit einer abgebrochenen Flasche angegriffen. In Rostock wird eine Frau, die mit ihrem Kind unterwegs ist, von einem Nachbarn beleidigt und anschließend geschlagen. In Bad Kleinen wird ein syrischer Mann mit einer Flasche beworfen und mehrfach getreten. Fensterscheiben von Flüchtlingsunterkünften wurden in Ueckermünde, Kirch Grambow, Lalendorf, Jördenstorf, Viereck und Velgast zerstört.
Verzweiflung macht sich breit
„Was sollen wir denn tun?“ oder „Wer kann uns helfen?“ oder „Was haben die Menschen hier gegen uns?“. Diese Fragen hören die Beraterinnen und Berater der LOBBI in den letzten Monaten immer häufiger. Und tatsächlich ist die Lage der Betroffenen prekär und ihre Situation unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht deutlich von Personen, die aus anderen rechten Motiven angegriffen werden. Viele Betroffene leben unter belastenden Wohnverhältnissen in Gemeinschaftsunterkünften, haben nur einen stark eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung oder eine unsichere Bleibeperspektive. Im Gegensatz zu vielen anderen Betroffenen können sie die Angriffsorte, etwa den Bahnhof der Kleinstadt, in der sie leben müssen, kaum meiden. Auch nach gehäuften Angriffen haben sie meist keine Möglichkeit, weiteren Attacken durch einen Umzug in eine andere Stadt zu entgehen.
Schwierige Ermittlungen
Fast immer werden Angriffe gegen Geflüchtete von rassistischen Beleidigungen begleitet. Viele Betroffene können diese jedoch nicht verstehen, weil ihre Sprachkenntnisse dafür noch nicht ausreichen. So bleibt aus polizeilicher Perspektive das Motiv des Angriffs zunächst unklar.
Am Tatort eintreffende Beamtinnen und Beamte sind oft ebenfalls nicht in der Lage, sich mit den Betroffenen zu verständigen. Sie suchen daher häufig vor allem den Kontakt zu anwesenden Deutschen. Da nur selten Augenzeugen und -zeuginnen anwesend sind, handelt es sich eben oft um die Täter*innen selbst. So haben diese die Möglichkeit, ihre Version des Geschehenen zum Besten zu geben und damit die Ermittlungen von Anfang an zu beeinflussen.
Selbstbewusste Angreifer*innen
Dieser Umstand scheint rassistischen Schläger*innen durchaus bewusst zu sein. Daher unternehmen sie oft gar nicht mehr den Versuch, vom Tatort zu fliehen, bevor die alarmierte Polizei eintrifft. Betroffene berichten von Angreifer*innen, die sich ganz sicher geben, dass ihnen keine Strafe droht, weil ihnen ja geglaubt wird. Wenn am Tatort dann ausschließlich mit ihnen das Gespräch gesucht wird, fühlen sie sich in dieser Annahme bestärkt. Nicht selten sind Anzeigen gegen die eigentlichen Betroffenen Folge solcher Konstellationen.
Das Vertrauen schwindet
Solche Erlebnisse steigern nicht gerade das Vertrauen in den hiesigen Rechtsstaat. Viele Betroffene sind ohnehin unsicher, ob sie einen Angriff zur Anzeige bringen sollen. Sie fürchten, dass eine Anzeige ihr laufendes Asylverfahren negativ beeinflussen könnte. Oder sie haben von Bekannten erfahren, dass Verfahren eingestellt wurden, weil etwa die Staatsanwaltschaft trotz offensichtlichem rassistischen Motiv kein öffentliches Interesse sieht. Wieder andere wissen von Aussagesituationen bei der Polizei zu berichten, die ohne Übersetzung stattfinden, obwohl sie deutlich gemacht haben, dass dies notwendig ist. Oder sie sahen sich bereits mit Beamten und Beamtinnen konfrontiert, die kaum einen Hehl daraus machten, dass sie ihren Schilderungen wenig Glauben schenken.
Hilflose Helfer*innen
Rassistische Angriffe haben Folgen, die weit über die unmittelbar Betroffenen hinausreichen. Sie schüchtern all jene ein, die diese Attacken auf sich selbst beziehen müssen, weil ihnen klar ist, dass es ihnen in einer vergleichbaren Situation wahrscheinlich ähnlich ergangen wäre.
Dies wiederum hat Folgen für all jene, die mit Geflüchteten arbeiten – egal, ob beruflich oder in der ehrenamtlichen Unterstützung. Sie sind ebenso ratlos, wie zunehmender Gewalt auf der Straße oder im Umfeld von Unterkünften zu begegnen ist. Sie wissen nicht, was sie Menschen sagen sollen, die nicht verstehen können, warum die Täter*innen nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Vielleicht wurden sie aber selbst schon beschimpft oder bedroht, weil sie jenen helfen wollen, die von so vielen abgelehnt und zu Sündenböcken für alle nur denkbaren Probleme gemacht werden.
Konsequenzen …
Auch an den Beraterinnen und Beratern der LOBBI geht all dies selbstverständlich nicht spurlos vorbei. Bereits die Anzahl der Angriffe führt sie regelmäßig an ihre Kapazitätsgrenzen. Vielen wichtigen Tätigkeiten etwa in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit, Prävention oder Dunkelfeldrecherche können sie kaum noch nachgehen.
Auch die Ausgestaltung der einzelnen Beratungstermine wird immer anspruchsvoller. Kaum eine Beratung ist ohne Übersetzung möglich, und die kostet Zeit. Gleichzeitig ist der Rede- und Unterstützungsbedarf oft deutlich höher als in anderen Beratungskontexten. So bringt die Dauer der einzelnen Termine oft alle Beteiligten an ihre Belastungsgrenzen, ohne dass alle Probleme zufriedenstellend bearbeitet werden können. Ein Verweis an weiterführende Unterstützung vor Ort oder spezialisierte Beratung etwa zu asylrechtlichen Fragen ist häufig nicht möglich, weil entsprechende Strukturen und Angebote vor Ort nicht existieren. Der Umgang mit Kompromissen und provisorischen Lösungen wird so zum Alltag und stellt grundlegende Beratungsstandards regelmäßig in Frage.
Perspektiven…
Die Berater und Beraterinnen reagieren auf diese Situation vor allem auf zwei Ebenen. Einerseits unternehmen sie alles ihnen Mögliche, um den Betroffenen Wege aufzuzeigen, wie sie erlebte rassistische Angriffe und deren Folgen verarbeiten können. Dazu gehört auch, behördliches Agieren zu erklären und rechtliche Rahmenbedingungen aufzuzeigen, um ganz generell einen selbstbewussten Umgang mit staatlichen Stellen zu ermöglichen.
Andererseits müssen sie die Grenzen der eigenen Möglichkeiten reflektieren und diese den Betroffenen offen vermitteln. Damit sind nicht nur die angesprochenen begrenzten Kapazitäten oder fehlende weiterführende Unterstützungsangebote gemeint, sondern auch die unterschiedlichen Positionen. Alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der LOBBI sind weiße Deutsche, also Menschen ohne eigene Rassismuserfahrungen. Damit können sie Ansätze von Selbstorganisation und -artikulation der Betroffenen zwar unterstützen und begleiten, aber selbst kaum vorantreiben. Doch gerade solche Prozesse haben das Potential, die Situation von Flüchtlingen in Mecklenburg- Vorpommern nachhaltig zu verbessern.
…und Forderungen
Solidarität an der Seite der Betroffenen wird aber auch weiterhin bedeuten, politische Forderungen auf den verschiedensten Ebenen zu formulieren. Dies beginnt bei der konsequenten strafrechtlichen Verfolgung. Ein rassistisches Motiv ist bei jedem Angriff gegen Geflüchtete zu prüfen und in den Ermittlungen ggf. aktiv und entsprechend dokumentiert auszuschließen. Haupt- und ehrenamtliche Hilfe und Beratung muss ausgebaut und ausreichend unterstützt werden, nicht nur finanziell.
Rassistischer Hetze muss auf allen Ebenen und in all ihren Formen konsequent begegnet werden, nicht nur wenn sie von organisierten Neonazis getragen wird. Und schließlich müssen Rassismusbetroffene endlich die breite gesellschaftliche Unterstützung erfahren, die ihnen zusteht. Ein Bleiberecht für diese Menschen, wie kürzlich für das Land Brandenburg beschlossen, wäre dabei ein wichtiger Schritt und ein deutliches Signal, auch an die Szene der Täter*innen.