“Alle müssen verstehen, was damals geschah”
vom 14. Februar 2018 in Kategorie: Artikel
Wann und wie hast du selbst das erste Mal von den Pogromen in Lichtenhagen erfahren?
Ich war damals in einer linken Organisation in der Türkei aktiv. Wir spürten schon kurz nach der Wende eine zunehmende rassistische Stimmung in der BRD. Dort lebende Türk*innen bestätigten uns dies immer wieder. Wir sahen die Gefahr zunehmender Angriffe, waren aber der Meinung, dass es in einem Land, dass sich intensiv mit seiner Geschichte auseinandersetzt, nicht so schlimm werden würde. Lichtenhagen, dann auch die Anschläge in Mölln und Solingen waren ein Schock für uns. In anderen Ländern hätten wir so etwas für möglich gehalten, aber nicht in Deutschland.
Was verbindest Du heute, nach dem Du schon viele Jahre in Rostock lebst, mit den damaligen Ereignissen?
Jede neue rassistische Bewegung bereitet mir seitdem Sorgen, weil ich seit damals weiß, dass die Bevölkerung immer das Potential für Pogrome wie in Lichtenhagen hat. Wir müssen schnell und entschlossen darauf reagieren, damit sich so etwas nicht wiederholt. Auf der anderen Seite sehe ich aber auch eine gewisse Sensibilisierung durch die Ereignisse von 1992 und die Bereitschaft, sich gegen Rassismus einzusetzen, gerade in Rostock.
Welche Bedeutung hat Lichtenhagen 1992 heute für migrantische Communities in Rostock und M-V?
Es gibt Leute, für die das keine Bedeutung hat. Gerade die, die später gekommen sind und die Zeit nicht miterlebt haben, die wissen teilweise auch gar nichts darüber. Ich treffe aber auch immer wieder Menschen, die das Trauma von damals bis heute mit sich tragen, unabhängig davon, ob sie damals in Rostock gelebt haben oder nicht. Viele, die damals als Flüchtlinge hierher kamen, als ehemalige „Vertragsarbeiter*innen“ hier lebten oder als migrantische Unternehmer*innen aus dem Westen kamen, wollen bis heute nicht darüber sprechen, was sie damals erleiden mussten. Eine offene politische Debatte über das, was damals geschah, kann diesen Menschen helfen und auch die sensibilisieren, die bis jetzt zu wenig über die rassistische Gewalt der 1990er Jahre wissen. Eine Erinnerungskultur, die die Betroffenen stärkt, ist wichtig und auch meine Aufgabe.
Wie hast Du das diesjährige Gedenken erlebt?
Als Migrantenorganisationen sind wir mit mehreren Personen in der AG Gedenken der Rostocker Bürgerschaft vertreten. Dort arbeiten wir besonders eng mit anderen Vertreter*innen der Zivilgesellschaft wie der LOBBI zusammen. Ich habe in der Planung der Gedenkveranstaltungen für den August 2017 ein Umdenken der Stadtverwaltung und -politik bemerkt. Das erste Mal wurde von dieser Seite von Pogromen und nicht nur von Ausschreitungen gesprochen. Ausschreitungen gibt es vielleicht beim Fussball. Was damals in Rostock passiert ist, waren keine Ausschreitungen, sondern ein Pogrom. Dass das jetzt so benannt wird, ist ein Fortschritt.
Wir haben jetzt Stelen an mehreren Orten in Rostock, die damals eine zentrale Bedeutung hatten, dies sorgt für Konfrontation und Auseinandersetzung mit den Ereignissen von damals. Das hat für mich eine große Bedeutung. Über die Kunstobjekte selbst kann und soll man natürlich diskutieren.
Und was ist Dir bei einzelnen Veranstaltungen aufgefallen, die Du besucht hast?
Es gab ja vom 22. bis zum 26. August an jedem Tag eine Einweihung einer Gedenkstele. Ich fand gut, dass viele dieser Veranstaltungen an den jeweiligen Orten selbst organisiert wurden: am Rathaus, bei der Ostseezeitung, auf dem alten Gelände vom JAZ. Die Polizei organisierte eine Bildungsveranstaltung mit Migrant*innen und jungen Polizist*innen. Dies war gut, sollte aber regulärer Bestandteil der Ausbildung sein und nicht nur einmal zu so einem Anlass stattfinden. Die Einweihung vor der Polizei selbst war öffentlich kaum bemerkbar.
Besonders gut fand ich die Einweihung in Lichtenhagen, gerade wenn ich an frühere Veranstaltungen zurückdenke. Die hatten für mich wenig mit angemessener Erinnerungs- und Gedenkkultur zu tun. Migrant*innen kamen kaum zu Wort, Betroffene wurden sogar ausgeschlossen und stattdessen eine deutsche Eiche als Gedenkort gepflanzt. In diesem Jahr gab es in Lichtenhagen gemeinsame Auftritte von Rassismusbetroffenen aus Rostock und anderen Städten. Das hat mir gezeigt, wenn Migrant*innen, Politik und Zivilgesellschaft zusammenarbeiten, kann dabei etwas Gutes entstehen.
Was gibt es aus Eurer Perspektive zu kritisieren?
Bei allen positiven Veränderungen wurde uns auch bewusst, dass wir noch vieles tun müssen. Die Perspektive von Migrant*innen fehlte in vielen Veranstaltungen und Medienbeiträgen. Der Geschäftsführer des Rostocker Migrantenrates hat dies schon zu Beginn der Gedenkwoche kritisiert, aber die Stadtverwaltung hat ihn nicht verstanden. Obwohl wir alle die gleiche Sprache sprechen, verstehen viele aus der sogenannten Mehrheitsgesellschaft nicht, was wir meinen und mit den Ereignissen der 1990er Jahre verbinden. Verwaltung und Politik müssen offener für Migrant*innen und ihre Perspektiven werden, gerade auch in Rostock. Aber dies betrifft auch die Zivilgesellschaft. Die Veranstaltung im JAZ [Jugend Alternativ Zentrum, Anm. d. Red.] war groß und bunt, aber sie richtete sich vor allem an deutsche Antifakids von damals und heute und nicht an Migrant*innen. Viele fehlten dort. Die linke Szene konzentriert sich zu sehr auf die Täter von damals und heute und reagiert auf deren Handeln. Sie muss mehr in Kontakt mit uns Migrant*innen treten und Berührungsängste überwinden. Rassismus und seine Folgen können wir nur gemeinsam bekämpfen.
Welche Forderungen ergeben sich daraus?
Wir müssen uns auf allen Ebenen Gedanken machen, wie Migrant*innen mehr mit einbezogen werden können. Gerade den Menschen, die direkt von Rassismus und Ausgrenzung betroffen sind, müssen wir ein Podium bieten.
Außerdem fehlt bisher ein Gedenkort für Betroffene. Im nächsten Jahr müssen wir uns darauf fokussieren, einen würdigen Gedenkort für die Betroffenen zu schaffen. Natürlich müssen die bestehenden Gedenkorte gepflegt werden.
Besonders wichtig ist es mir, die Pogrome von 1992 dauerhaft in Erinnerung zu halten, nicht nur an den Tagen um den 24. August. Dafür ist das Archivprojekt »Lichtenhagen im Gedächtnis« vom Verein Soziale Bildung ganz wichtig. Diese Arbeit muss unbedingt fortgeführt werden, damit ein möglichst vollständiges und öffentlich nutzbares Archiv entsteht. Dies können dann Schulklassen und alle anderen Interessierten nutzen.
Alle müssen verstehen, was damals geschah. Nur so können wir verhindern, das es wieder geschieht. Deshalb liegt mir ein bundesweites Dokumentationszentrum zur rassistischen Gewalt nach 1990 sehr am Herzen. Ich werde mich dafür einsetzen, dass es in Rostock entsteht.
Was wünscht Du Dir in diesem Zusammenhang sonst für die Zukunft?
Ich habe die Idee von einem Filmprojekt, bei dem sich Betroffene von damals gegenseitig interviewen. Was ist mit den Menschen damals passiert? Wo sind sie jetzt und wie geht es ihnen? Wie sehen sie die Ereignisse von damals heute? So ein Projekt umzusetzen, wäre ein großer Wunsch von mir. Ich glaube, es könnte ein ganz wichtiger Beitrag sein, damit Betroffene sich selbst Gehör verschaffen und die traumatisierenden Erlebnisse von damals verarbeiten können. Dies kann auch die stärken, die heute von rassistischer Gewalt betroffen sind.
Klar ist auch, dass es nicht reicht, einmal im Jahr zu erinnern. Das rassistische Klima in unserer Gesellschaft muss an jedem Tag bekämpft werden.