Déjà-vu im Gerichtsgebäude
vom 1. September 2010 in Kategorie: Artikel
Am 30. Juni 2007 kam es in einer Regionalbahn im Landkreis Bad Doberan zu einem rechts motivierten Gewaltausbruch, der auch überregional für Entsetzen sorgte. Über 100 Neonazis, darunter Mitglieder und Mitarbeiter der NPD-Landtagsfraktion, reisten in dem Zug zu einem Aufmarsch in Rostock an. Ebenfalls in der Bahn hielten sich etwa 50 Menschen auf, die sich auf dem Rückweg von einem Festival befanden oder sich an den Protesten gegen die rechte Demonstration beteiligen wollten. Am Bahnhof Pölchow gab es zunächst einen Wortwechsel mit einigen Neonazis. Wenig später griff eine große Gruppe rechter Schläger das Abteil und die Mitreisenden an. Scheiben wurden eingeschlagen, Menschen verprügelt, Haarbüschel herausgerissen, einzelne aus dem Zug gezerrt und die Böschung heruntergeworfen. Etliche Neonazis beteiligten sich minutenlang an den Angriffen, andere filmten das Geschehen. Der Mitarbeiter der NPD-Landtagsfraktion Michael Grewe spielte dabei eine zentrale Rolle, gab Anweisungen und schlug selbst zu.
Die folgenden Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft waren aus Sicht der Angegriffenen eine Farce. Die angekündigte „zügige Aufklärung“ dauerte über zweieinhalb Jahre und richtete sich zunächst vor allem gegen die Betroffenen des Angriffs. So sahen sich zwölf der Angegriffenen mit Verfahren wegen schweren Landfriedensbruchs konfrontiert, die erst nach einem Jahr aus Mangel an Beweisen eingestellt wurden. Die Ermittlungen gegen die eigentlichen Täter kamen dagegen nur schleppend in Gang. Dies lag an der mangelnden Beweissicherung am Tatort. So hatten die Polizeibeamten zwar sämtliche Betroffene gefilmt, die sie antrafen. Von den Neonazis konnten sie hingegen nur wenige Fotografien vorweisen. Zudem wurden die Videoaufnahmen der Rechten nicht sichergestellt. Die Staatsschutzabteilung der Rostocker Polizei setzte sich später auch noch dem Spott der bundesweiten Presse aus, als sie den hinreichend bekannten Grewe per Internetfahndung als „unbekannten Randalierer“ suchte. Am Ende der Ermittlungen wurden lediglich drei Tatverdächtige angeklagt.
Das Verfahren vor dem Rostocker Landgericht begann dann im Januar 2010 und endete im März. Wie schon während der Beweisaufnahme, nahmen die Angeklagten auch das Urteil mit einem breiten Grinsen zur Kenntnis. Eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und fünf Monaten, sowie die Ableistung von Arbeitsstunden – so lautete das Strafmaß gegen Grewe wegen Landfriedensbruchs in Tateinheit mit mehrfacher Körperverletzung. Ein weiterer Angeklagter erhielt eine einjährige Bewährungsstrafe. Der dritte Angeklagte wurde aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Von weiteren Überfällen auf politisch Andersdenkende werden sich Neonazis durch „diese Entscheidung des Gerichts wohl kaum abschrecken“ lassen, schätzte eine Nebenklagevertreterin ein. Wie recht sie damit hat, zeigten die Geschehnisse am Tag der Urteilsverkündung. Mitten im Gerichtsgebäude wurden, einem Bericht der TAZ zufolge, ProzessbeobachterInnen angegriffen und verletzt, sowie ein Feuerlöscher als Wurfgeschoss genutzt. Wieder war eine große, extrem aggressive Gruppe von Neonazis dafür verantwortlich. Wieder waren prominente NPD-Funktionäre unter ihnen. Wieder filmten die Neonazis ihren Angriff. Und wiederum gelang es der erst später erscheinenden Polizei nicht, das Video sicher zu stellen. Gegen zwei Personen aus der etwa 30-köpfigen Gruppe ermittelt sie jetzt wegen gefährlicher Körperverletzung.
Ausführliche Berichte über die Verhandlung sind im Internet u.a. bei der „Prozessgruppe Pölchow“ zu finden.