«Endstation Pölchow»
vom 1. Juni 2008 in Kategorie: Artikel
Das große Wort führte an diesem Tag auf dem Bahnhof von Pölchow vor allem einer: Udo Pastörs, Vorsitzender der NPD-Fraktion im Schweriner Landtag. Man sei von „Linkschaoten“ angegriffen worden, behauptete er nach Aussagen von Augenzeugen gegenüber den Beamten. Als Beweis gebe es auch Videoaufnahmen, sagte Pastörs. Dann drängte der rechte Funktionär zur Weiterfahrt. Denn in Rostock wollte die NPD an diesem Tag „gegen linke Gewalt“ demonstrieren und „die Kameraden“ warteten schon. Tatsächlich durften Pastörs & Co weiterreisen. Mit im Zug: Einige ihrer Opfer, die nach eigenen Angaben von Polizeibeamten gezwungen wurden, wieder mit den Neonazis in die Bahn zu steigen. Nach einer Personalienfeststellung am Rostocker Bahnhof konnten die NPD-Anhänger wie geplant ihren Aufmarsch durchführen.
Zu den Ereignissen in der Bahn existieren sehr unterschiedliche Darstellungen: Da sind zum einen die Neonazis, die sich wahlweise als Opfer oder als „Sieger“ einer Auseinandersetzung mit „Linksfaschisten“ präsentieren meist aber als letzteres. So wie beispielsweise die Kameradschaft Malchin, die sich auf ihrer Website brüstet: „Ob im RE-Zug in Pölchow oder dem linken Studentenviertel, die Nationale Opposition hat (…) auf allen Ebenen einen klaren Sieg davon getragen.“
Ebenfalls beteiligt: Bundespolizei und Landespolizei, die je nach Einsatzort zwei entgegengesetzte Versionen des Geschehens verfolgten. Eine Gruppe von Beamten geht sehr bald von einem Angriff einer zahlenund kräftemäßig überlegenen Gruppe von Neonazi-Schlägern aus dem gesamten Bundesgebiet auf unbewaffnete alternative Jugendliche und junge Erwachsene aus. Andere Beamte übernehmen sofort die Version des NPD-Fraktionsvorsitzenden.
Ein Dutzend Verdächtige von „Links“
Tatsächlich leitete die Staatsanwaltschaft Rostock Ermittlungsverfahren wegen schweren Landfriedensbruchs gegen zwölf Männer und Frauen ein, die Polizeibeamte aufgrund ihres Äußeren der linken Szene zugeordnet hatten. Die zwölf waren gemeinsam mit rund 30 anderen zum Teil erheblich verletzten Jugendlichen und unbeteiligten Reisenden von Polizisten in der Nähe einer Kleingartensiedlung bei Pölchow festgestellt worden. Die Kleingärtner hatten einigen Blutenden erste Hilfe geleistet, dann nahmen die Beamten die Personalien aller auf und filmten sie. Bei den Neonazis verzichteten die Polizisten an diesem Tag weitgehend auf Videound Bildaufnahmen. Fragt man Oberstaatsanwalt Peter Lückemann, Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Rostock, was die Strafverfolgungsbehörden im vergangenen Jahr an Beweisen gegen die zwölf Beschuldigten gesammelt haben, wird es still am Telefon. Dann sagt Lückemann, mangels dringenden Tatverdachts habe man die Ermittlungen gegen elf der zwölf „Linken“ gerade eingestellt.
Fragt man Klaus K. (Name geändert) und andere Augenzeugen nach ihrer Erinnerung an die Fahrt mit der S-Bahn, ist die erste Reaktion ebenfalls Stille aber eine angespannte. Dann sprudeln die Erinnerungen: Von dem gemeinsamen Besuch des alternativen Festivals „Fusion“ an der Müritz und dem spontanen Entschluss, von dort aus zu einer Anti-NPD-Kundgebung nach Rostock zu fahren. Die rund 60 FestivalbesucherInnen stiegen in Schwaan in ein fast leeres S-Bahnabteil ein. Irgendjemand habe dort ein halbes Dutzend Rechte entdeckt, erinnert sich Klaus K. Die sechs Männer seien dann in Pölchow aus dem Zug gedrängt worden, ohne Gewaltanwendung. Klaus K. sagt, er sei völlig überrascht und geschockt gewesen, als plötzlich mehrere Dutzend, überwiegend in Thor-Steinar-Shirts und in Schwarz gekleidete Neonazis,
teilweise mit Sonnenbrillen und Tüchern vermummt, von draußen Gleisbettsteine in den S-Bahnzug warfen und in die Abteile drängten. Panik kam auf, als diese Männer mit äußerster Brutalität auf alle im Zug losgegangen seien, die irgendwie als „Linke“ oder „Alternative“ identifizierbar waren. Dabei seien Sprüche gefallen wie „Ihr kommt hier heute nicht mehr raus“, „Jetzt gibt‘s richtig aufs Maul“ und „das ist hier wie im Krieg“. Viele erinnern sich an den unvermummten Anführer der Rechten, der durch seine gegelten, halblangen Haare, sein Alter und seine autoritären Kommandos auffiel und den einige noch vor Ort als Michael Grewe (40), Mitarbeiter der NPD-Landtagsfraktion in Schwerin identifizierten. Von Zaunlatten und mit Quarzsand gefüllten Handschuhen, von Fußtritten und Glasflaschen, mit denen Gruppen von Rechten sich über einzelne Opfer hermachten, ist die Rede.
Klaus K. erinnert sich an ein schreiendes Kleinkind, das von Glassplittern getroffen wurde, als Neonazis eine Scheibe einschlugen. Gemeinsam mit anderen Reisenden konnte er das Kind und dessen Mutter vor weiteren Verletzungen schützen. Nichts tun dagegen konnte er, als zwei Neonazis immer weiter auf einen schon am Boden liegenden, blutenden jungen Mann eintraten und ihn schwer verletzten.
In dem polizeilichen Abschlussbericht findet sich eine Version der Ereignisse, die den Erinnerungen von Klaus K. sehr nahe kommt. Auf die Frage an Peter Lückemann, warum die Staatsanwaltschaft Rostock angesichts dieses polizeilichen Ermittlungsergebnisses so lange gegen die zwölf Linken ermittelt habe, wird der Oberstaatsanwalt nebulös. Es gebe dafür einen „neutralen Zeugen“, der eine „verlässliche Aussage“ abgegeben habe. Auch auf die nächsten Fragen antwortet der Oberstaatsanwalt nur spärlich: Was ist eigentlich aus den Videoaufnahmen geworden, die Udo Pastörs bereitwillig der Polizei angeboten hatte? Zumal viele Zeugen davon berichteten, wie Neonazis das Geschehen mit Handykameras aufnahmen. Oberstaatsanwalt Lückemann sagt, es gebe keine Videoaufnahmen: Nein, die Neonazis seien trotz entsprechender Hinweise durch Zeugen nicht an Ort und Stelle durchsucht worden „das wäre unverhältnismäßig gewesen“, so Lückemann. Nachträgliche Hausdurchsuchungsbefehle habe es auch nicht gegeben.
Internet-Fahndung nach polizeibekanntem Neonazi
Und warum hat der polizeiliche Staatsschutz in Rostock, der für die Bekämpfung von Straftaten von Rechts zuständig ist, im Frühjahr 2008 im Internet mit einem Foto die Öffentlichkeit um die Identifizierung von Michael Grewe gebeten? Der Staatsanwalt sagt, die Beamten hätten nicht gewusst, dass es sich bei der „unbekannten, männlichen Person“ auf dem Foto um einen NPD-Landtagsmitarbeiter gehandelt habe. Grewe erlangte eine gewisse Berühmtheit, weil Polizisten in den 1990er Jahren in seiner damaligen Wohnung eine Maschinenpistole und 1300 Schuss Munition fanden. Oberstaatsanwalt Lückemann sagt, die Internet-Fahndung sei „auf empörte Reaktionen gestoßen“.
Innenminister Lorenz Caffier (CDU) hatte nach den Ereignissen von Pölchow vor einem Jahr „schnelle Aufklärung“ versprochen. Darauf müssen Klaus K. und andere Opfer wohl noch eine Weile warten. Die Staatsanwaltschaft Rostock ermittelt noch gegen zwei weitere Neonazis aus Norddeutschland wegen gefährlicher Körperverletzung. In drei Monaten soll eine Anklage stehen, sagt Staatsanwalt Lückemann. Der NPD-Landtagsmitarbeiter David Petereit vertreibt derweil über seinen Onlineshop in Anlehnung an das SPD-Portal Endstation Rechts für 14 € T-Shirts mit dem Aufdruck „Endstation Pölchow“. Ein Käufer trug das Hemd bei einem Aufmarsch in Hamburg am 1. Mai bei dem es zu gewalttätigen Angriffen durch Neonazis auf Journalisten, Polizei und GegendemonstrantInnen kam. Auch nach der Demonstration schlugen Rechte zu in einem Zug in Bad Kleinen.
von Heike Kleffner