Konsequenzen ziehen
vom 16. Juli 2013 in Kategorie: Artikel
Wer hat versagt?
Drei Dinge dürften mit verhindert haben, dass das rassistische Motiv der Mordserie bei den Ermittlungen erkannt wurde. Der Reflex, den Opfern aufgrund ihres Migrationshintergrunds eine Verstrickung in kriminelle Machenschaften zu unterstellen. Die Missachtung der Einschätzung von Angehörigen und FreundInnen der Opfer. Und der Irrglaube, deutsche Neonazis wären nicht fähig und willens zehn Menschen kaltblütig umzubringen.
Bei aller berechtigten Kritik an Polizei und Geheimdiensten – der Staat ist nicht der einzige Akteur. Als Mehmet Turgut erschossen wurde, erkannten auch wir den rassistischen Tathintergrund nicht. Ein maßgeblicher Grund für die Entstehung der LOBBI war die Erfahrung,dass das Tatmotiv bei rechten Angriffen von den Behörden häufig ignoriert wird. Unser Selbstverständnis beinhaltet explizit das Ziel, dieser Wirklichkeit entgegenzuwirken. Wieso versagte der Ansatz in diesem Fall?
Routinen der Dunkelfeldrecherche
Die LOBBI hat bestimmte Routinen entwickelt, um das Dunkelfeld rechter Gewalt aufzuhellen und den Betroffenen Unterstützung anbieten zu können. So durchsuchen wir regionale Zeitungen nach Meldungen über rechte Angriffe – und eben auch nach Angriffen, die ein rechtes Motiv nicht nennen, aber möglich erscheinen lassen. In der Regel sind dies Artikel, die bestimmte Opfergruppen erwähnen: also etwa Punks, MigrantInnen, Obdachlose. Oder es sind bestimmte Informationen über den Tathergang enthalten, also besondere Orte, benutzte Waffen oder Abläufe. Wir versuchen dann im Rahmen unserer Möglichkeiten zu recherchieren. Eine andere Routine ist die Einbeziehung und Anerkennung der Opferperspektive. Das bedeutet, dass die Betroffenen nach ihrer Einschätzung des Tatmotivs gefragt werden und ihnen auch geglaubt wird.
Dieser Ansatz griff zunächst auch nach dem Tod von Mehmet Turgut im Februar 2004. Wir registrierten Presseberichte über den Mord an einem Türken und ordneten die Tat als möglicherweise rassistisch motiviert ein. Daher lief eine Recherche zu dem Fall an. Wir fuhren zum Imbiss, um die Betreiber zu befragen – trafen dort aber niemanden an. Gespräche mit Menschen in der Umgebung brachten keine weiteren Informationen.
Wenige Tage später gab die Polizei bekannt, dass die Tat im Zusammenhang mit einer Mordserie an Imbissbetreibern stehe und Schutzgelderpressung das Motiv sein könnte. Damit endete dieRecherchederLOBBI.Warum?Nach acht Jahren ist dies kaum noch genau nachzuvollziehen. Ein Grund dürfte gewesen sein, dass uns das genannte Tatmotiv nicht unwahrscheinlich erschien. In Rostock sind gewalttätige Auseinandersetzungen im kriminellen Milieu, mit Beteiligten unterschiedlicher Herkunft, schon vorgekommen. Auch der Hinrichtungscharakter und der überregionale Kontext der Tat ist eher in der organisierten Kriminalität zu erwarten. Wir hatten zu dem Zeitpunkt kaum andere Anhaltspunkte. Dennoch bleibt ein ungutes Gefühl. War auch bei uns die Herkunft des Opfers ein Grund, der Polizeiversion ohne weiteres Hinterfragen zu glauben? Dass rassistisch begründete Vorurteile auch bei antirassistischen Projekten zu finden sind, ist uns klar. Spielten derartige Vorurteile hier unbewusst eine Rolle? Nach langen Diskussionen sehen wir das Problem allerdings eher im offenbar noch nicht ausreichend ausgeprägten Misstrauen gegenüber polizeilichen Aussagen.
Wir haben uns deshalb nicht an die zweite Routine gehalten. Die Perspektive der Angehörigen und FreundInnen haben wir nach der offiziellen Einschätzung nicht abgefragt. Ansatzpunkte, die Angehörigen zu finden und zu befragen, waren zwar denkbar gering. Allerdings hätten wir den Imbissbetreiber durchaus aufsuchen und befragen können. Dies nicht zu tun, war ein Fehler.
Fehlende Zugänge und falsche Einschätzungen
Die Herkunft des Opfers spielt allerdings an anderer Stelle eine Rolle. Die strukturelle gesellschaftliche Ausgrenzung von MigrantInnen ist uns bewusst. Doch die daraus resultierenden fehlenden Zugänge haben auch wir nicht überwunden und reproduzieren damit diese Ausgrenzung. Von den Einschätzungen der Angehörigen und FreundInnen des Opfers oder auch von den Demonstrationen in Kassel und Dortmund 2006 haben wir nicht erfahren. Bei anderen Zielgruppen rechter Gewalt wäre das kaum vorstellbar. Wenn beispielsweise alternative Jugendliche, Antifas oder linke PolitikerInnen in Mecklenburg-Vorpommern angegriffen werden, bestehen Kontakte und Netzwerke, über die uns in der Regel Informationen erreichen. Zu MigrantInnencommunities und insbesondere Illegalisierten bestehen dagegen kaum Kontakte.
Gleichzeitig haben wir die TäterInnenszene falsch eingeschätzt. Aus unserer Arbeit sind uns die tödlichen Potentiale rassistischer, antisemitischer, sozialdarwinistischer und nationalsozialistischer Ideologien durchaus bewusst. In Mecklenburg-Vorpommern wurden mindestens zehn Menschen aus diesen Motiven umgebracht, in anderen Fällen nahmen die TäterInnen den Tod ihrer Opfer in Kauf. Anschläge, Wehrsportübungen, Waffenfunde, extreme Gewaltphantasien in Liedtexten oder Onlinekommentaren, martialisches Auftreten und positiver NS-Bezug – all das war uns bekannt. Dennoch waren auch wir überrascht und entsetzt. Ob im Februar 2004 oder noch im Oktober 2011: Eine über Jahre hinweg bundesweit mordende Untergrundgruppe von Neonazis lag außerhalb unserer Vorstellung und unseres Erfahrungshorizonts. Diese geplanten, vorbereiteten und nüchtern ausgeführten Hinrichtungen passten nicht zu dem, was wir bisher im Zusammenhang mit den eher impulsiven und spontanen Morden durch Neonazis kannten.
Ein weiterer Aspekt war sicher die fehlende Vernetzung nach Westdeutschland. Wären die Morde in den neuen Bundesländern begangen worden, hätte, so unsere These, das bestehende Netzwerk der Opferberatungsprojekte einen möglichen rassistischen Hintergrund der Taten gemeinsam wahrgenommen und diskutiert – spätestens als dieser Verdacht von den Angehörigen direkt geäußert wurde.
Aus den Fehlern lernen
Wir halten unseren Ansatz für wichtig und richtig. Wir sehen uns als Bestandteil der vielen nichtstaatlichen Organisationen, Gruppen, Bündnisse und Einzelpersonen, die in der Vergangenheit oft erfolgreich rechte Strukturen aufdeckten, der Szene aktiv Grenzen setzten und nicht zuletzt in vielen Fällen von rechter Gewalt Druck auf Politik und Behörden ausübten. Dennoch müssen wir angesichts der Mordserie über eigene Konsequenzen nachdenken. Dazu gehört die Analyse und Neubewertung der Gewalt und Untergrundbereitschaft der deutschen Neonaziszene. Dazu gehört das Vorantreiben bundesweiter Vernetzungen, um überregionale Entwicklungen und Übereinstimmungen leichter erkennen zu können. Vor allem gehören dazu aber Überlegungen, wie gerade bei rassistischen Taten die Reproduktion falscher behördlicher Deutungen und eigener Vorurteile vermieden werden kann. Nicht zuletzt ist die stärkere Beachtung der Opferperspektive nach rechten Gewalttaten als politische Forderung an ermittelnde Behörden, wie auch an Antirechtsinitiativen, voranzutreiben.
Gekürzte Version eines Artikels, der erstmals im April 2012 im Antifaschistischen Info-Blatt erschien.