Mit System gegen das System?
vom 1. September 2010 in Kategorie: Artikel
Quantitative Eskalation (in Mecklenburg-Vorpommern)
Der Einsatz zielgerichteter Sachbeschädigungen durch die rechte Szene ist kein neues Phänomen. Auch Parteibüros gehören nicht erst seit diesem Jahr zu den Zielobjekten dieser Attacken. Neu ist hingegen die Zahl der Angriffe. Von 2001 bis 2005 registrierte die LOBBI nur vereinzelte Vorfälle. In den Folgejahren stieg die Zahl (2006: 3/ 2007:6 / 2008:8 / 2009: 9). Diese Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu betrachten. Es ist davon auszugehen, dass nicht jeder Vorfall bekannt wurde. Dennoch dürfte die Zahl von mindestens 33 Anschlägen und ähnlichen Vorkommnissen bis Ende August des aktuellen Jahres eine massive Steigerung darstellen. Attacken auf die Einrichtungen verschiedener Parteien sind auch aus allen anderen Bundesländern bekannt. Bei dieser deutlichen quantitativen Eskalation scheint es sich derzeit aber um ein spezifisches Phänomen in Mecklenburg-Vorpommern zu handeln. Zumindest konnten die Partnerprojekte der LOBBI in den östlichen Bundesländern bislang keinen so eindeutigen Zuwachs konstatieren.
Überlegte Anschlagsplanungen
Bisher wurden im Zusammenhang mit den aktuellen Anschlägen keine Tatverdächtigen ermittelt. Doch zurückgelassene Aufkleber und angebrachte Parolen zeigen in vielen Fällen eindeutig in Richtung Neonazis. Die regionalen Häufungen sprechen für die Beteiligung der sogenannten „Autonomen Nationalisten“ (AN). Diese aktionsorientierten Kameradschaften haben ihre Schwerpunkte in Teterow, Güstrow, Waren und Rostock. Eine Handreichung einer thüringischen AN-Gruppe belegt die Befürwortung und Planung derartiger Anschläge in diesem Milieu. In dem Text werden Aktivitäten gegen das „Bürgerbüro der Linkspartei oder andere(n) Einrichtungen des politischen Gegners“ ausdrücklich „gestattet“. Die Aktionen sollten in der Nacht, zu zweit, vermummt und ohne eindeutige rechte Kennzeichen verübt werden. Vor der Tat sollten „Fluchtgassen“ analysiert und nach der Tat „absolutes Stillschweigen“ bewahrt werden. Auch die Tatumstände der hiesigen Anschläge sprechen für derart überlegte Planungen.
Die Dynamik und Vernetzung unter diesen jugendlichen Neonazi-Gangs ermöglichen auch den überegionalen Charakter dieser „Kampagne“. Das jetzige Vorgehen ähnelt zudem den Aktivitäten der Autonomen Nationalisten in den vergangenen Jahren. 2009 hatten beispielsweise antisemitische Aktionen Konjunktur in dieser Szene.
Mehr als „Anti-Antifa“
Auffällig war bei der Anschlagserie auch die Auswahl der Zielobjekte. In den letzten Jahren konzentrierten sich die Sachbeschädigungen auf die Linkspartei. In diesem Jahr traf es – wenn auch in unterschiedlichen Ausmaßen – auch SPD, CDU und FDP. Über die Motive dieser „Erweiterung“ kann nur spekuliert werden – Bekennerschreiben gibt es nicht.
Kommentare auf einer Neonazi-Website stellen die Anschläge regelmäßig in Zusammenhang mit Attacken auf NPD-Einrichtungen. Es sei „nicht auszuschließen, dass die Anschlagserie gegen Demokratenbüros nicht abreißen wird, bis “Politische Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern” auch im Landtag thematisiert und geächtet wird“. Sollte es sich also um eine Art Rache handeln, wäre dies keine schlüssige Argumentation. Weder stimmt es, dass die NPD das Hauptangriffsziel unter den Parteien ist, noch werden diese Angriffe verschwiegen. Ebenso unzutreffend ist es, dass es keine Distanzierungen von Angriffen auf Neonazieinrichtungen gibt, geschweige denn sind Landtagsabgeordnete dafür verantwortlich zu machen. Wahrscheinlicher ist, dass die Neonazis ihr Aktionsfeld „Anti-Antifa“ ausgedehnt haben. Neben JournalistInnen, engagierten Einzelpersonen, linken ParteiaktivistInnen oder Mitgliedern von antifaschistischen Gruppen könnten jetzt auch bestimmte konservative und liberale PolitikerInnen als politische GegnerInnen identifiziert und attackiert werden. Seit dem Einzug der NPD in den Landtag haben schließlich Abgeordnete aller Parteien deutlicher als zuvor gegenüber der Partei und der Neonazi-Szene Stellung bezogen und kommen so als Zielobjekte in Frage.
Dennoch haftet der Auswahl der Anschlagsziele manchmal eine gewisse Beliebigkeit an. Und so kann die Frage gestellt werden, ob es den Tätern überhaupt noch um konkrete exponierte PolitikerInnen geht? Es entsteht der Eindruck, dass nicht mehr Einzelpersonen, sondern die Parteien an sich und zwar alle das Ziel sind. Diese Erkenntnis erscheint zunächst banal. Schließlich ist das Mehrparteiensystem ein Grundelement der repräsentativen Demokratie und aus der Ablehnung dieses Gesellschaftssystems macht die rechte Szene keinen Hehl. Doch systematische Attacken auf Institutionen des „Systems“ in Form von Anschlägen sind in diesem Umfang eine qualitative Steigerung in Mecklenburg-Vorpommern.
Stichwortgeber NPD
„Gegen Demokraten helfen nur Granaten“ skandieren „autonome Nationalisten“ auf einem NPD-Aufmarsch in Rostock und verleihen ihren Gewaltphantasien mit gezielten Böllerwürfen zusätzlich Nachdruck. Die Ordner der Partei feixen dazu. Auch hinsichtlich der Anschlagsserie ist es kaum denkbar, dass die NPD die Aktionen nicht befürwortet oder zumindest duldet. Zu eng sind die Partei und die sogenannten „Freien Nationalisten“ in Mecklenburg-Vorpommern miteinander verquickt. Und an der Dominanz der NPD in dieser streng hierachisch organisierten Szene besteht kein Zweifel. Die schon zitierte Neonazi-Website , die vom Rostocker NPD-Funktionär Petereit verantwortet wird, kommentierte die Anschläge mehrmals auf „satirische“ Weise. So wurden die „Aktivisten“ der Szene in Verbindung mit einer Adressliste von Parteieinrichtungen dazu aufgefordert, „mal wieder in ihrem örtlichen Bürgerbüro vorbeizuschauen. Denn, Demokraten gibt es auch in Deiner Stadt und das flächendeckende Netz läßt sich unmöglich rund um die Uhr bewachen“. Dass dies nur geschehen soll, um „Hilfestellung bei der Aufklärung der Fälle“ zu leisten, ist höchst unwahrscheinlich. Und so können diese und auch andere „Distanzierungen“ nur als verklausulierte Angriffsaufrufe und als kalkulierte Provokationen interpretiert werden.
Die NPD M-V veröffentlichte zudem im Juli diesen Jahres in einem anderen Zusammenhang noch einmal ein älteres Zitat des Vorsitzenden Udo Voigt, welches die Partei angesichts der Anschläge als ideologischen Stichwortgeber charakterisiert: “Wir bekennen uns heute zu einem Deutschen Sozialismus und sehen uns als grundsätzliche Alternative zum gegenwärtigen Parteienspektrum.“ Die NPD wolle nicht neben den anderen Parteien agieren, „sondern gegen sie!”. Wie authentisch diese Verortung ist wird deutlich, wenn Fraktionschef Pastörs bei einem Aufmarsch in Anklam vom „Tag der Abrechnung“ geifert, an dem es „keine Gnade“ für Demokraten gebe oder an den zerschossenen PolitikerInnenporträts, die beim NPD-Kreistagsabgeordneten Krüger gefunden wurden.
Für die NPD ist dies ein Vabanquespiel. Wird ihr ein Zusammenhang mit den Anschlägen nachgewiesen – schreitet sie also vom Wort zur planvollen Tat – wäre dies ein Beleg für eine „aktiv kämpferische, aggressive“ Praxis der Partei. Dies ist eine Hauptvoraussetzung für ein Parteiverbot.