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Nichtanerkennung wirkt zusätzlich belastend

vom 1. September 2010 in Kategorie: Artikel

Frau Rothkegel, mit welchen Folgen waren Betroffene rassistischer Angriffe konfrontiert, die sich in Ihre Behandlung begaben?

Opfer von Gewalttaten stehen nach ihrem traumatischen Erlebnis meist unter Schock. Sie zeigen Gefühle von Betäubung, reagieren mit Unruhezuständen, Überaktivität und vegetativen Zeichen panischer Angst. Sind diese Symptome einer akuten Belastungsreaktion nach drei Tagen nicht abgeklungen, kann es zur Ausbildung einer posttraumatischen Belastungsstörung kommen. Eine solche posttraumatische Belastungsstörung ist verbunden mit der ständigen Wiederkehr der traumatischen Erinnerungen in Bildern und Träumen, andauernden Gefühlen von Betäubtsein, der Vermeidung von Situationen, die eine Konfrontation mit dem Erlebten darstellen, sowie Perioden von Depressivität, die sich mit Angst- und Panikattacken abwechseln. Ein rassistischer Angriff ist für die Betroffenen mit einem tiefen Einbruch in das gewohnte Lebensgefüge verbunden. Nichts wird mehr so empfunden wie zuvor. Traumatische Erfahrungen gehen einher mit Gefühlen von Bedrohung, Angst, totaler Ohnmacht und Hilflosigkeit. Sie können zu dauerhaften psychischen und somatischen Beschwerden mit schweren sozialen Folgen führen. Viele verdammen und bestrafen sich zumeist unbewusst dafür, dass sie während der Gewalteinwirkungen hilflos, ausgeliefert und abhängig waren. Wird einem Opfer über einen längeren Zeitraum die Verarbeitung und Integration der erlebten Gewalt nicht ermöglicht, besteht die Gefahr der Chronifizierung, die bis zur Nichtbewältigung des Alltagslebens führen kann. Die Symptome sind sozialer Rückzug und eine entfremdete und misstrauische Haltung gegenüber der Umwelt, Gefühle der Leere und ständigen Bedrohung, sowie chronische Nervosität.

Welche Faktoren sind für die Ausprägung psychischer Störungen und den Behandlungsverlauf wesentlich? Was begünstigt und was erschwert die Verarbeitung?

Ob sich eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Sowohl traumaabhängige wie auch persönliche und soziale Faktoren spielen eine Rolle. Dabei kann vor allen Dingen die Bedeutung der sozialen Unterstützung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Bei Menschen mit traumatischen Vorerfahrungen kann es bei Diskriminierung und einem erneuten Gewalterlebnis zu einer Retraumatisierung kommen; das vorher erlebte Leiden und die dazugehörigen Symptome werden reaktiviert. Am stärksten sind diejenigen betroffen, die nicht auf Unterstützung durch ein soziales Netz zurückgreifen können. Die psychische Beeinträchtigung von Opfern rechter Gewalt kann durch eine Reihe von Faktoren weiter verstärkt werden. Besonders traumatisch werden Angriffe erlebt, bei denen Zuschauer passiv bleiben, den Schauplatz verlassen oder sogar Beifall spenden.

Wie können sich traumatische Erlebnisse auf das Aussageverhalten von Betroffenen vor den Ermittlungsbehörden und vor Gericht auswirken?

Zu den Konzentrations- und Gedächtnisstörungen von Traumatisierten treten grundsätzliche und situative Faktoren hinzu, die ihr Aussageverhalten beeinflussen. Misstrauen, Rückzugs- und Isolationstendenzen führen zu Persönlichkeitsänderungen, behindern die Kommunikation und verstärken sich in einer Befragungssituation. Angst, Ärger und das Gefühl, wieder einmal keinen Glauben zu finden, führen zur Blockade. Hinzu kommt eine Tendenz zur Abkapselung der traumatischen Erfahrungen von der Umwelt, weil sie als nicht kommunikationsfähig erachtet werden. Auch die Schamgefühle der Verletzten spielen eine erhebliche Rolle. Sie resultieren aus der Demütigung und der Erfahrung, dem Angriff ohnmächtig ausgeliefert gewesen zu sein.

Worauf sollten PolizistInnen, StaatsanwältInnen und RichterInnen während ihrer Befragung von Betroffenen rechter und rassistischer Angriffe achten?

Traumatische Erinnerungen unterliegen anderen Gedächtnisprozessen als normale Alltagserinnerungen. Sie sind zunächst nonverbal, bildhaft, fragmentiert, raum- und zeitlos gespeichert. Sie sind somit nur bedingt abrufbar oder erzählbar. Eine Integration der traumatischen Ereignisse in den persönlichen Lebenslauf und eine „Erzählbarkeit“ ergibt sich oft erst im Laufe einer allmählichen psychischen Stabilisierung und Verarbeitung der traumatischen Ereignisse. Insofern ist es dringend geboten, dass Polizisten, Staatsanwälte und Richter über Kenntnisse der posttraumatischen Symptomatik und deren Auswirkungen auf das Gedächtnis und die Konzentration, das Aussage- und Kommunikationsverhalten und die Interaktion im Gespräch verfügen. Diese Kenntnisse sind Voraussetzung für eine sachgerechte Befragung. Außerdem spielt ein unterschiedlicher kultureller Hintergrund eine bedeutende Rolle in der Formung von Verhaltensweisen und Normen. Es gibt kulturspezifische Belastungen, Bewältigungsstile, Interpretationen sowie Erwartungen. Diese spielen bei allen interkulturellen menschlichen Interaktionen, und eben auch bei Befragungen – sei es durch Behördenvertreter oder vor Gericht – eine entscheidende Rolle. Wir können immer von einer anderen Sprachkultur im Heimatland der Betroffenen ausgehen: In einigen Ländern ist es beispielsweise nicht üblich, Fragen direkt, sondern umschrieben zu beantworten; direkte Fragen können als Affront gewertet werden. In manchen Kulturen wird in „Wir-Form“ gesprochen, weil eine kollektive Identität besteht. Es kann also nicht nur zu Desorientierungen durch die traumatische Einwirkung kommen, sondern auch durch den Kulturwechsel in eine unvertraute Umgebung.

Welche Kriterien sollten bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Opfern rassistischer Angriffe durch Staatsanwaltschaften und Gerichte Berücksichtigung finden?

Sowohl Konzentrations- als auch Gedächtnisstörungen gehören per Definition zum Bild der posttraumatischen Belastungsstörung. Beide Phänomene verstärken sich bei Belastung. Eine Befragungssituation bei Gericht oder Staatsanwaltschaft ist eine Stresssituation und stellt somit eine Belastung dar. Die Störung der Konzentrationsfähigkeit nimmt dabei meist zu, wenn sich das Gespräch belastenden Themen nähert. Der Betroffene wird unruhig oder wirkt abwesend, antwortet nicht mehr auf die gestellten Fragen, verwechselt Daten usw. Dadurch können Nachfragen oder Unwilligkeit bei den Fragenden entstehen, was zu vermehrtem Stress und damit zur Vermehrung der Konzentrationsstörungen führt. Diese Phänomene zeigten sich deutlich bei der Befragung durch Vertreter des Gerichts während der Prozesse gegen die Täter.

Welche Rolle spielt für Betroffene von rassistischen Angriffen die juristische Aufarbeitung des Erlebten?

Eine Nichtanerkennung der langfristigen Leiden traumatisierter Menschen durch öffentliche Funktionsträger oder Gerichte wirken sich nachweislich zusätzlich belastend aus. Sie verstärken bei den Opfern das Gefühl des Vertrauensverlustes in die Welt, ein Umstand, der zu langfristigen sozialen Beeinträchtigungen führen kann. Therapeutische Prozesse können aber auch gerade durch „amtliche Stellen“ positiv beeinflusst werden. Hierzu beizutragen, muss die Aufgabe von uns allen sein.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview erschien zuerst in den „Informationen der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt“ aus Sachsen-Anhalt.